ZUM BUCHEN DIETZ Lügen muss man. Und dürfen tut man auch. Denn Sprache sei keineswegs ein Vertrag zur Einhaltung von Normen, sie diene ganz unterschiedlichen Zwecken. Und der Zweck heiligt die Mittel. Man kann ehrenhaft lügen aus achtsam und bedächtig erwogener Fürsorge, etwa wenn man einer Kranken damit Hoffnung geben will, wo keine mehr ist. Aus Notwehr kann man lügen, zum eigenen Schutz – niemand muss sich selbst belasten – oder zum Schutz Dritter. Und auch Politiker lügen nicht ein- fach mangels Charakter, sondern weil sie ständig eiertanzen müssen zwischen ver- traulichen Besprechungen und öffentlich eingeforderten Erklärungen. Wer lügt, um seine Privatsphäre vor blanker Neugier zu schützen, verhält sich anders als jemand, der illoyal wird und mittels Lüge das Feld ge- meinsamer Absprachen verlässt. Dietz hat 15 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen die Kunst des Lügens erweitert um Begriffe wie die Twitter-Tweets von Trump, die Fake News, die gefühlten Wahrheiten, die legen- dären «alternativen Fakten», Social Bots, in Wahlkämpfen Versprochenes und Gebro- chenes, und den Begriff der «Lügenpresse». Bei dieser hält sie den Vorwurf für berechtigt, wenn er auf eine verzerrende oberflächliche Berichterstattung abzielt, nicht aber wenn es um eine sinnvolle Verdichtung und Verkür- zung geht. Eine Gefahr sieht Dietz in den «alternativen Fakten»: mit ihnen werde ein Mechanismus der Verständigung abgetötet, nämlich die eigene Position argumenta- tiv begründen zu müssen. Vereinzelt sind in der Kunst des Lügens Unschärfen nicht zu überlesen, alles in allem aber eine gute Einführung in das Thema in einem ruhigen klaren Duktus. mk Simone Dietz: Die Kunst des Lü- gens, Stuttgart 2017, Reclam, ISBN 978- 3-15-011103-1 BUTTER Verschwörungstheorien sind prak- tisch. Jene Verschwörungstheorie, die sich in Deutschland – zur Zeit – am besten «hält», am weitesten in die gesellschaftliche Mit- te vorgedrungen ist, ist jene vom «Grossen Austausch»: Deutschland, so der Plan von «Finanzoligarchen», solle ausgeschaltet werden mittels der «Migrationswaffe». Die deutsche, christliche, abendländische Be- völkerung solle ausgetauscht werden gegen eine muslimische. Und warum kann das sein, wie ist das möglich? Kein Wunder, wenn die Politik total versagt und ein Bundespräsi- dent sage, der Islam gehöre zu Deutschland. Verschwörungstheorien gibt es zu Hauf, we- niger gibt es zum Thema, was genau eine Verschwörungstheorie ausmacht, wo sie herkommt, wie sie entsteht und funktioniert und welche Auswirkungen sie haben kann. Michael Butters Buch avanciert laut Rezen- sionstableau zu einem Standardwerk. Es gilt als eines der besten zu diesem Thema und ist obendrein auch noch locker aufzunehmen. Es vermittelt auch überraschende – und beruhigende – Einsichten: Verschwörungs- theorien gab es immer schon, früher wohl mehr als heute. Heute allerdings erscheinen sie deshalb als erdrückend, weil sie informa- tionstechnologisch viel leichter zugänglich und viel leichter zu verbreiten sind. Waren sie früher gar so etwas wie Elemente der Auf- klärung – das bisher unfassbar Scheinende bekam durch sie eine rationale Erklärung, sind die «Anforderungen» an eine Ver- schwörungstheorie heute ungleich grösser. Man kann sie nicht nur leichter verbreiten, sie ist auch leichter überprüfbar. Kritik er- fährt Butter dort, wo er läppische Konstruk- tionen in eine Reihe stellt mit solchen, die in ihrem Kern einen unbestrittenen Konsens ausweisen. gk Michael Butter: «Nichts ist, wie es scheint» – Über Ver- schwörungstheorien, München 2018, Suhr- kamp, ISBN 978-3- 518-07360-5 GAUGER Vulgäres linguistisch erklärt. Wer flucht wie? Kürzestfassung: auf deutsch fäkal, im Englischen und den romanischen Sprachen sexuell konnotiert. Fluchen, Be- leidigen und Schimpfen wir auf Deutsch, verwenden wir Ausdrücke aus dem Exkre- mentellen, während sich die Nachbarspra- chen des Deutschen an das Sexuelle, margi- nal auch Religiöse, klammern. Warum das so ist, lässt Hans-Martin Gauger offen. Der emeritierte Ordinarius für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Frei- burg i. Br. schöpft aus einem schier boden- losen Fundus von Belegen, literarischen Zitaten und Anekdoten. Im Verlaufe seines Buches relativiert er ein grosses Stück weit seine These von deutsch-fäkal und roma- nisch-sexuell, während der eine oder andere Rezensent diese These unbedingt stützen zu müssen meint: das Deutsche leite sich eben ursprünglich von der Bedeutung «deutlich» her, und das Fäkale sei nun mal zweifelsfrei, wie es sich für das Fluchen, Schimpfen und Beleidigen gehöre, negativ besetzt, wohin- gegen das Sexuelle ja lustorientiert sei und zum Fluchen, Schimpfen und Beleidigen quasi verfehlt. Aha. Nun denn. Allein wegen dieses Gelehrtendiskurses muss man Gau- gers Buch nicht kennen. Die Lektüre lohnt alle mal. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus über die Reichhaltigkeit, die schöp- ferische Kraft des sogenannten Vulgären, dessen wir uns alle, auch die, die es von sich nicht wissen, bedienen. Viele Ausdrücke oder Redewendungen des Deutschen oder anderer Sprachen sind derart etabliert und ponyhofkompatibel, dass ihr ehemals vul- gärer Kontext längst verschollen ist: Alles im Eimer, sozusagen. gk Hans-Martin Gau- ger: Das Feuchte & das Schmutzige – Kleine Linguistik der vul gä- ren Sprache, Mün- chen 2012, C.H. Beck, ISBN 978-3-406- 62989-1 28 Auflösung März-Wette: 69 LEU 01/2021